1914 reloaded? Warum wir jetzt eine neue Entspannungspolitik brauchen
Liebe Friedensfreundinnen und Friedensfreunde,
die Welt wäre eine bessere, wenn Putin die Ukraine nicht überfallen hätte. Was Russland dort anrichtet, ist völkerrechtswidrig und darf nicht gerechtfertigt werden.
Es stellt sich daher nicht die Frage, wer hier der Aggressor ist – es stellt sich die Frage, ob die Reaktion des Westens überhaupt ansatzweise geeignet ist, wünschenswerte Ziele zu erreichen und ob der Glaube, Konfliktlösung durch immer mehr Waffen, nicht alles noch viel schlimmer macht – wir sind drauf und dran, in einen dritten WK zu taumeln.
Februar 1914. General Moltke schreibt an das Auswärtige Amt, Russland rüste auf, Russland werde immer stärker und man erwarte die Kriegsfähigkeit der Russen in wenigen Jahren. Zahlreiche Medien forderten dann konkrete Kriegsvorbereitung gegen die bedrohlichen Russen. Die Öffentlichkeit wurde von massiver Aufrüstungsnotwendigkeit überzeugt, denn ein Krieg könne gar nicht mehr vermieden werden. Und so kam es dann auch. Das Attentat von Sarajewo war nur der Funke, der die allseitige Kriegstüchtigkeit zur Explosion brachte.
Stevan Zweig hat die Stimmung vor dem ersten WK in seinem Werk, „Die Welt von gestern“ präzise beschrieben: „Die Philosophen wussten plötzliche keine andere Weisheit, als den Krieg zum Stahlbad zu erklären und manchmal war es, als hörte man eine Horde Besessener toben, und all diese Männer waren doch dieselben, deren Vernunft, deren formende Kraft, deren menschliche Haltung wir vor Wochen noch bewunderten.“ Stefan Zweig. Die Welt von gestern.
Beim Einschalten so mancher Talkshow habe ich das Gefühl, da sitzen Leute, die es gar nicht erwarten können, bis es losgeht, in den meisten Diskussionen geht es gar nicht mehr um das Verhindern – es geht ums Vorbereiten.
Und dabei wird behauptet, dass Russland plane, den Westen anzugreifen.
Ist das plausibel? Russland hat es nicht ansatzweise geschafft, die Ukraine zu besetzen. Russland ist nicht einmal in der Lage, bis nach Kiew vorzudringen, Russland kann die Ukraine nicht in die Knie zwingen. Und nach diesem – aus russisch-militärischer Sicht - Totaldesaster, denken die Leute im Kreml, okay, die Ukraine ist eine Nummer zu groß für uns – daher nehmen wir uns jetzt das mächtigste Militärbündnis der Welt vor. Ist das ernsthaft plausibel?
Und dann hören wir ständig: Russland sei in wenigen Jahren militärisch so stark, dass es uns überfallen könnte. Wirklich? Russlands Militär ist zu 80% an der ukrainischen Front gebunden. Russland könnte auch nach einem Waffenstillstand seine Truppen dort nicht abziehen, denn im Konfliktfall wären sie von Süden her ohne Verteidigung. Russland restauriert aktuell alte Sowjetpanzer – einen am Tag – verliert aber täglich vier Stück. Russland kann in wenigen Jahren nicht die militärischen Fähigkeiten haben, den Westen anzugreifen.
Und zudem: Welches Motiv hätte Russland? Im Baltikum gibt es keine Bodenschätze– bei uns bestenfalls die höchstsubventionierte Steinkohle der Welt.
Und Russland werde uns testen –hören wir immer. Ich halte diese These für irrig – aber, wenn man schon in dieser Kategorie denkt, dann hat dieser Test doch bereits stattgefunden. Dann war doch die Ukraine der Test, um zu sehen, wie der Westen reagieren würde. Und wenn Russland es nicht einmal schafft, ein Land wie die Ukraine – ohne direkte NATO Beteiligung - niederzuringen, wie sollte das dann – aus russischer Sicht - gehen, wenn die NATO direkt unmittelbar reagiert.
Dann sagt man uns immer: Europa müsse wiederbewaffnet werden – als ob wir unbewaffnet wären. Eine Studie des einflussreichen Quincy-Institutes, es wurde von hochrangigen Militärs und von CIA-Leuten gegründet – dieses Institut belegt das Gegenteil. Europa sei – auch ohne die USA – in allen relevanten Waffengattungen quantitativ, vor allem aber auch qualitativ überlegen.
Wir halten diese Rahmenerzählung, dass Russland plane, uns demnächst anzugreifen, für falsch und gefährlich und erinnern daran, dass das angeblich imperiale Russland nach 1990 hunderttausende Soldaten aus der Ex-DDR und aus Osteuropa abzog.
Russland demontierte Raketen, anerkannte die Selbstständigkeit der baltischen Staaten, schlug ein „Gemeinsames Haus Europa“ vor und bot einen Wirtschaftsraum von Lissabon bis Wladiwostok an. Die ausgestreckte Hand Moskaus wurde ausgeschlagen. Die USA wollten nach 1990 Russland niederhalten, um als einzige Weltmacht aus dem Kalten Krieg hervorzugehen und um sich diesen Status auch für die Zukunft zu sichern (Wolfowitz-Doktrin 1992).
Sicherheitsberater Brzezinski, der wie kein anderer die US-Außenpolitik der letzten 40 Jahre prägte, forderte 1997 in seiner Studie „Amerikanische Vorherrschaft und ihre geostrategischen Voraussetzungen“ die USA müssten die Ukraine beherrschen, denn dann könne Russland nie wieder zu einer relevanten Großmacht aufsteigen. Unter massivem Einfluss der US-Rüstungsindustrie beschloss der US-Kongress schon Mitte der neunziger Jahre die NATO-Osterweiterung. 2001 folgte der US-Ausstieg aus dem ABM-Vertrag (Gleichgewicht des Schreckens), dann der Ausstieg aus zahlreichen anderen Rüstungskontrollverträgen, die Stationierung von Raketen in Rumänien und Polen, schließlich das massive Eingreifen in den Maidanprozess, um die Neutralität der Ukraine zu verhindern.
Vor den desaströsen Folgen dieser Politik wurde gewarnt. 1997 schrieben über 60 führende Experten für US-Außenpolitik einen Brandbrief an Präsident Clinton. Die NATO-Osterweiterung würde die Demokratisierung Russlands beenden und Europa destabilisieren. Vom größten Fehler der Nachkriegszeit war die Rede. Auch der frühere US-Botschafter William Burnes warnte 2008, niemand in Russland, auch nicht die liberalsten Kritiker Putins, würden in der Osterweiterung etwas Anderes sehen als eine direkte Bedrohung.
Roman Herzog, Herta Däubler-Gmelin, Erhard Eppler, Antje Vollmer, Horst Teltschik und andere schrieben 2015 einen offenen Brief mit der Überschrift: „Krieg in Europa – nicht in unserem Namen“. Sie forderten die Achtung russischer Sicherheitsinteressen – andernfalls könne es Krieg geben.
1990 wurde Russland in den Glauben versetzt, dass es nie eine NATO-Osterweiterung geben würde (Robert Gates, 2000). Das war eine gezielte Täuschung.
Russlands Überfall auf die Ukraine war der letzte Versuch, die NATO auf Distanz zu halten, nachdem dies über Verhandlungen für Russland nicht erreichbar schien.
Während die USA immer noch an der Monroe-Doktrin festhalten und fremdes Militär in ihrem Machtbereich niemals dulden würden, gelten russische Sicherheitsbedürfnisse als illegitim.
Statt diese anzuerkennen, wird Russland und seine Führung dämonisiert und ein bevorstehender Angriff unterstellt. Mehrheitlich fordert die EU, noch mehr Waffen an die Ukraine zu liefern, obwohl der Chef des US-Generalstabs, Mark Milley, schon 2022 vorhergesagt hat, eine rein militärische Lösung sei ausgeschlossen.
Da das Ziel, die Russen aus der Ukraine zu vertreiben, ersichtlich nicht mehr erreichbar ist, braucht es nun für ein „Weiter so“ eine neue argumentative Grundlage: der bevorstehende Angriff.
Doch für einen solchen gibt es weder ein Motiv noch die dafür militärischen Fähigkeiten, und es gibt auch keine einzige Äußerung der russischen Staatsspitze, die Sowjetunion wieder herzustellen und sich deshalb den baltischen Staaten einzuverleiben. Dies musste die Bundesregierung nach einer parlamentarischen Anfrage genau so bestätigen.
Doch auch wenn davon auszugehen ist, dass Russland weder das Interesse hat, noch dazu in der Lage ist, Europa anzugreifen, ist die Situation brandgefährlich. Denn wenn beide Seiten davon ausgehen, von der je anderen Seite überfallen zu werden, erhöht sich die Kriegsgefahr, zumal im nächsten Jahr auf deutschem Boden amerikanische Mittelstreckenraketen stationiert werden sollen. Diese neuen Hyperschallraketen sind „Enthauptungswaffen“, die die westliche Erstschlags-Fähigkeit verstärken und das nuklear strategische Gleichgewicht gefährden. Denn unsere „Abschreckung“ ist alles andere als defensiv und wird in Moskau zunehmend als Bedrohung empfunden, was angesichts von 27 Millionen toten Sowjetbürgern im Zweiten Weltkrieg nur verständlich ist. Die aktuelle Aufrüstungshysterie verstärkt solche Bedrohungsängste noch weiter.
Daher fordern wir von der neuen Bundesregierung eine sofortige diplomatische Initiative. Wir brauchen eine neue Entspannungspolitik. Es ist unverantwortlich, die Verhandlungsebene einem unberechenbaren Antidemokraten im Weißen Haus zu überlassen. Die Bundesregierung und die europäischen Nachbarn sollten von uns allen in Leserbriefen, Anfragen, Unterschriftenaktionen, Gesprächen und durch nicht übersehbare Aktionen überzeugt werden, gemeinsam Verhandlungen mit der russischen Staatsspitze über eine Neuauflage der „Friedlichen Koexistenz“ aufzunehmen: Es braucht einen Waffenstillstand, Truppenentflechtungen, eine entmilitarisierte Zone – am besten mit chinesischen Blauhelmen, denn Putin würde es niemals wagen, diese zu beschießen.
Der Eintritt in ein neues Wettrüsten ist zu stoppen. Es verschärft Konflikte, verschlechtert die Lebensqualität von uns allen und kann uns in einen Krieg führen, der von Deutschland nichts übriglässt.
Deshalb sagen wir:
- Nein zu unbegrenzter Aufrüstung, denn Europa ist verteidigungsfähig.
- Nein zu einem neuen Wettrüsten, denn wir brauchen diese Milliarden und Billionen im Kampf gegen den Klimawandel, für Armutsbekämpfung weltweit und für soziale Gerechtigkeit.
- Nein zur Militarisierung unserer Gesellschaft, denn Kriegstüchtigkeit hat noch nie Frieden geschaffen, sondern Kriege immer erst möglich gemacht.
- Wir wollen keine Kriegsvorbereitung,
wir wollen Diplomatie statt Aufrüstung.