Wieland Hoban - Redebeitrag für die Demonstration "Nie wieder kriegstüchtig!“ in Stuttgart am 3. Oktober 2025
Liebe Mitstreitende,
schon vor einem Jahr war es kaum zu fassen, dass der Genozid in Gaza noch stattfindet, und inzwischen sind es zwei Jahre. In dieser Zeit mussten wir nicht nur das unvorstellbare Leid in Gaza und die menschenverachtende Gewalt Israels mit ansehen, sondern auch das Schweigen und die Widerstandslosigkeit in unserer eigenen Gesellschaft. Während die letzte Regierung, die Ampelkoalition aus SPD, Grünen und FDP, das Liefern von Waffen an Israel noch stolz verteidigte, spielt die aktuelle Große Koalition Hilflosigkeit und eine kritische Haltung vor, während immer noch Waffen geliefert werden. Nachdem in den ersten eineinhalb Jahren 485 Millionen Euro durch die Verkäufe eingenommen wurden, hat Deutschland in der Zeit seit der trügerischen Ankündigung von Friedrich Merz im August, die Exporte einzuschränken, Rüstungsgüter im Wert von 2,5 Millionen Euro nach Israel geschickt. Auch wenn die Massaker vor Ort von Israel ausgeführt werden, ist Deutschland so stark daran beteiligt, dass man unser Land als Mittäter beim Genozid bezeichnen muss. Nicht nur Unterstützer, sondern Mittäter.
Dabei dürfen wir nicht dem abgedroschenen Narrativ glauben, dass es hier um eine moralische Verantwortung ginge. Die eigentliche Verantwortung wäre, den Genozid zu stoppen! Ohne deutsche Rüstungsgüter, von Munition bis hin zu Panzertriebwerken, hätte die Zerstörung und das Töten in Gaza nicht in dem Maße durchgeführt werden können, wie es bis jetzt geschieht. Eigentlich sollte der Begriff der „deutschen Staatsräson“ aufhorchen lassen, denn er benennt die Tatsache, dass nicht im Sinne der deutschen Bevölkerung, sondern im Interesse der Herrschenden gehandelt wird. Auch nicht für die Opfer der Nazis, sondern für geopolitischen Einfluss und wirtschaftliche Interessen. Dass diese unmenschliche Realpolitik durch Deutschlands vergangene Verbrechen legitimiert werden soll, durch das Märchen, dass hier eine historische Schuld ausgeglichen wird, ist grotesk. Gerade ein Land, das einen Genozid wie den Holocaust – nach dem in Namibia – begangen hat, hätte eine besondere Verantwortung, Genozide zu verhindern, nicht an ihnen teilzunehmen! Dass dies nicht geschehen ist, zeigt die Verlogenheit der deutschen Politik – und zwar nicht erst seit 2023, sondern seit den frühen fünfziger Jahren, als Konrad Adenauer die ersten Waffen nach Israel schickte und die Unterstützung für den zionistischen Staat als Weg betrachtete, Deutschland politisch zu rehabilitieren. Die sogenannte Erinnerungskultur, die zur moralischen Reinwaschung dieser zynischen Realpolitik diente, ist staatlicher Betrug, auch wenn viele Bürgerinnen und Bürger sie aufrichtig betrieben haben in dem Glauben, die Aufarbeitung der Vergangenheit sei wichtig für die Gegenwart.
Neben der materiellen Unterstützung Israels wird diese Geschichte auch instrumentalisiert, um gegen die migrantische Bevölkerung, vor allem die muslimische und arabische, rassistische Hetze zu betreiben. Wer sich nicht der Staatsräson unterordnet, wird geächtet, und Palästinenserinnen und Palästinenser sind in diesem Schema fast per Definition Antisemiten, weil sie nicht den Staat loben, der ihre Familien vertrieben und ausgelöscht hat. Deutschland versucht, die Last des eigenen Antisemitismus auf sie zu verschieben, als ob die Opfer des Zionismus den Holocaust begangen hätten. Vielmehr muss Deutschland anerkennen, dass es nicht nur für den Holocaust verantwortlich war, sondern auch für die Nakba, die ohne den Holocaust nicht geschehen wäre. Die Nakba müsste zur deutschen Erinnerungskultur gehören, und deutsche Regierungen müssten die Menschen Palästinas um Vergebung bitten für die Verbrechen, die vor fast einem Jahrhundert begannen und bis heute fortgesetzt werden.
Dass Friedrich Merz letztens in einer Synagoge Tränen vergossen hat über Verbrechen, die andere vor ihm begangen haben und nicht die, die von ihm und seiner Regierung jetzt, jeden Tag, begangen werden, müsste reichen, um den moralischen Bankrott zu entlarven. Und 80% der deutschen Bevölkerung lehnt den Genozid und die Waffenlieferungen ab, und solche Spektakel können sie nicht mehr überzeugen. Aber wo bleiben sie? Wir haben letztes Wochenende gesehen, dass es inzwischen – nach zwei Jahren Genozid – möglich ist, 100.000 Menschen auf die Straße zu bringen. Das reicht aber nicht! Es braucht mehr. Italien hat uns mit Streiks und Blockaden vorgemacht, wie effektive Solidarität aussieht. Ohne die Maßnahmen der Gewerkschaften, der Arbeiterinnen und Arbeiter, hätte die rechte Meloni-Regierung niemals ein Schiff zur Begleitung der Global Sumud Flotilla geschickt. Wo bleiben die deutschen Gewerkschaften? Wo bleiben die Aufrufe zu Streik und Blockade? Rüstungsgüter werden hier hergestellt und über den Hamburger Hafen oder Flughäfen wie Leipzig und Frankfurt nach Israel geschickt. Soll in den Geschichtsbüchern stehen, dass die deutsche Bevölkerung all das geschehen ließ? Dass sie Stolpersteine putzen konnte, aber nicht das Abschlachten Zehntausender Kinder verhindert hat?
Unsere Gegenwart ist die Geschichte von morgen. Wir haben es in der Hand, wir sind nicht machtlos. Die kommenden Generationen werden wissen, was wir getan und nicht getan haben.
Vielen Dank!
- Es gilt das gesprochene Wort –
Wieland Hoban ist Vorsitzender der Gruppe "Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost."